Warum ich Liebeslyrik schreibe:
DIE STIMME DES HERZENS UND DIE SCHAM
Ich möchte in diesem kleinen Aufsatz versuchen, einmal die allgemeinen psychologischen und philosophischen Hintergründe skizzieren (man möge mir nachsehen, dass hier manches nur rudimentär, angedeutet, fragmentarisch erscheint), weshalb ich Liebeslyrik schreibe und hier veröffentliche. Dabei wird es in diesem Fragment weniger um die Lyrik als solche gehen, sondern mehr um die Hintergründe, den Boden meiner eigenen Weltanschauungen, auf der meine „lyrischen Blumen“ erwachsen, und die mich bewogen haben, dieses Blog ins Leben zu rufen. Ich bitte also den Leser dieser Zeilen, sich offenen Herzens entführen zu lassen in einen Teilausschnitt meiner persönlichen Wahrheiten, in denen „Eintagsliebe“ gedeiht. Wie stets freue ich mich über ein Feedback.
Das Herz eines Kindes
So, wie das Kind in seiner Natur und in seinem Herzen empfindet, könnte es manchmal vor schierer Freude, vor purem Glück zerspringen. Seine „unanstößliche Übertragung“ (Freud) auf die Menschen, sein grenzenloses Lieben, seine Güte, sein Urvertrauen ist ungetrübt, wie sein Wunsch sich mit alles Lebewesen herzlich zu verbinden, wird es gelassen. Erhält das Kind die Chance, seiner inneren Natur zu folgen, sie zu entfalten (ich spreche hier also nicht von ungewollten oder früh traumatisierten Kindern, bei denen dieser Impuls bereits verzerrt ist), dann ist es eins. Das Herz des Kindes schlägt dann und zuerst aus dem tief empfunden Einklang mit sich selbst und mit der unmittelbaren Lebensumwelt, Gebärmutter, Mutter, Familie. Es ist sein Herz, das es leitet, das sich zeigt, das sich verbinden will. Es ist sein Herz, das Bindung sucht: mit der Mutter, dem Vater, den anderen Wesen um es herum. Bindung ist so verstanden das tiefe biologische Bedürfnis, sich mit einem anderen Herzen wieder und wieder in Einklang zu fühlen. Jene glückliche Momente des Eins-Seins mit einem anderen Menschen sind somit ein tiefes biologisches Bedürfnis, das der Mensch als „Tiefe“, als unmittelbaren Kontakt, als „Glückseligkeit“ wahrnimmt, die für einen Augenblick präsent sind, aber auch wieder vergehen. Die Kontinuität solcher Erfahrungen, besser, die Fähigkeit, solche Erfahrungen immer wieder herzustellen, ist das, was eine gute Bindung ausmacht. Goethe sagte zu diesem Augenblick „verweile doch, du bist so schön!“, Ernst Bloch sprach vom „Dunkel des gelebten Augenblicks“ und Immanuel Kant vom „Ding an sich“, welche eher die rationale Schattenseite dieser Erfahrung andeutet.
Der Augenblick verweilt nicht, er vergeht, wir können ihn nicht mit dem Verstand, sondern nur mit dem Herzen erfassen, aber daraus erwächst das Bedürfnis der Liebe, solche Augenblick mit einem anderen Menschen immer wieder neu zu erfahren, zu lieben, was allerdings die eigentliche Schwierigkeit ist, wie wir später sehen werden.
Nur so viel an dieser Stelle: In meinen Gedichten spielen Begriffe wie „Augenblick“, „Herz“, „Licht“, „Sonne“ usw. deshalb eine so große Rolle, weil solche Erfahrungen einer Herzverbindung wahrhaftig erhellende Erfahrungen des Augenblicks sind. Doch kommen wir zurück zur Herzerfahrung des Kindes, die wir in nuce in uns tragen:
Das Herz eines Kindes kann so überschäumen vor Liebe, vor Liebeslust, dass der Erwachsene in seiner harschen, unerbittlichen Welt des Kampfes und der Waffen heftig erschrickt. Der Erwachsene hat schließlich sein inneres Kind mit genau diesen Gefühlen in sich abgetrieben, es geopfert und ist genau das geworden, was er ist: Ein einsamer Wanderer auf rastloser Suche. Er sucht sich selbst. Doch er sucht genau dort, wo es keine Chance gibt, sich zu finden, er sucht im Außen, in seinen Beziehungen oft im anderen, doch nicht in sich selbst.
Was bleibt dem Kind? Wenn es keine oder wenig Resonanz fühlt bei den eigenen Eltern? Das Kind sucht neue Objekte für seine Sehnsucht. Oft sind es Tiere, oft lieben deshalb Kinder – und manchmal auch Erwachsene – Tiere, vielleicht, weil diese Liebe, diese Herz(ver)bindung ungefährlicher, weniger existentiell bedrohlich ist. Weil Tiere keine Herzen brechen.
Denn die Geschichte geht ja weiter: „Die Schläge meines Vaters haben mir nie geschadet. Im Gegenteil“. Haben sie wohl. Nur irgendwann spürt das geschlagene, gedemütigte, missbrauchte Kind nicht mehr den Schmerz, weil es abgestumpft ist.
Hat nicht der erwachsene Mensch längst sich für die Waffen und die Domestizierung seiner Herzgefühle entschieden? Hat sich arrangiert mit der kalten herzlosen Welt, in der Geld und Macht alles sind, weil sie das Herz am besten schützen? Und jetzt ist er bei seiner eigenen Tochter, seinem eigenen Sohn wieder mit genau diesen Herzgefühlen konfrontiert. Das darf nicht sein!
Nahezu jeder Erwachsene in unserer Kultur hat eines lernen müssen: Die Stimme des Herzens ist peinlich, lächerlich, kindisch, belanglos, sie läuft der Wirklichkeit zuwider, sie ist lästig, eigentlich völlig unwichtig, überflüssig wie die 20. Talkshow mit Leuten, die man schon 20 mal hat reden hören. Zwar ist sie manchmal irgendwie da, und dass sie da ist, lässt sich auch irgendwie nicht vermeiden, und Verliebtheit kann ein nettes Spiel oder Droge werden, aber wirklich gewünscht, willkommen, geliebt gar ist diese Stimme nicht.
Dieses Wesen des Kindes, das aus seinem Herzen heraus lebt, ist, offen gesagt, eine Schande. Das Kind soll anders sein als es ist. Es muss anders werden. Brav. Angepasst. Vernünftig. Seine Gefühle müssen domestiziert werden, insbesondere die schmelzenden Gefühle des Herzens.
Es sollte sich schämen, so zu sein. So überschwänglich, so ehrlich, so naiv in seiner Liebe und seinen Gefühlen. Denn das Leben ist doch ganz anders. Die Menschen sind doch ganz anders. Das Leben ist hart, das Kind zu weich, viel zu weich. Diese elende Schwäche, wenn und wie es sein Herz zeigt! Lächerlich. Es ist eine Schande, solche Gefühle zu empfinden, es ist eine Schande, so zu sein, wie es ist! Es ist lächerlich. Hahaha. Und dieser offene, sehnsüchtige Blick, ist er nicht lächerlich, kindisch, hündisch? Wenn mein Hund so guckt, okay, er ist schließlich ein Hund. Aber mein Kind? Das ist doch peinlich.
So erfährt das Kind die Scham, seine emotionale Nacktheit in dieser Welt. Die Scham wird zur Vertreibung aus dem Paradies der Unmittelbarkeit, der authentischen gefühlsmäßigen Wahrheit in sich selbst. Der Mensch lernt die Zensur des Gehirns und identifiziert sich mit seinem Verstand stärker als mit seinen Gefühlen, ha, versucht er zumindest.
Noch etwas: das, was es zu verdecken lernt, ist nicht in erster Linie sein Genital, sondern sein Herz (hier lügt die Schöpfungsgeschichte: die Scham erwuchs nicht aus der körperlichen, sondern aus der seelischen Nacktheit; und heute ist nicht die Sexualität das größte Tabu, sondern sind es die Herzgefühle).
Die Vertreibung aus dem Paradies ist die Abtreibung des Herzens. Die Vertreibung aus dem Paradies ist die tief empfundene Scham darüber, ein über alle Maßen liebendes, ein überschwängliches, ein aus innerem Frieden und Glückseligkeit heraus schlagendes Herz in sich zu fühlen. Diese Sehnsucht, ist das, was Wilhelm Reich „kosmische Sehnsucht“ nannte, andere als „spirituelle Sehnsucht“ oder Sehnsucht nach Drogen und Betäubungen jedweder Art wahrnehmen. Sehnsucht nach Verbindung des Herzens ist aber in der Wurzel unsere Natur.
Die Realität, unsere kulturelle Realität sieht so aus: Die Welt, in der ein Kind geboren wird, wird diese Sehnsucht, dieses Herz beschämen, immer wieder. Wird dieses Sein des Kindes beschämen. Und dieses Kind wird sich schämen, ein Leben lang, ein solches Herz in sich fühlen zu müssen. Wird es verbergen, vergraben, mit Leibeskräften schützen vor neuen Verletzungen. Die alte ist zu tief. Wird eine Persönlichkeitsstruktur entwickeln, die nur ein einziges Ziel hat: sein Herz zu schützen. Und so ein falsches, narziststisches Selbst ausbilden, dem wir auf Schritt und Tritt begegnen. Unsere ganze Kultur ist eine einzige gigantische Megamaschine des Narzissmus. Denn dort, wo das Herz erstickt wurde, bleibt nur eine große Leere. Die Megamaschine ist eine grandiose Maschinerie, um diese Leere nicht zu fühlen. Deswegen sind die Menschen unserer Kultur andauernd damit beschäftigt, irgendetwas zu tun, mit irgendetwas beschäftigt zu sein, lechzen nach Anerkennung durch andere und richten ihr Leben vollkommen darauf aus. Denn das lenkt aber von der Stille, in der diese Leere aufscheinen könnte. Oder, soweit es noch schlägt, das Herz mit seiner Sehnsucht nach Verbindung und anderen Gefühlen. Gefühle sind gefährlich, denn sie könnten dieser Wahrheit näher bringen. In der Pubertät, in der Adoleszenz lernt der Mensch schließlich, nachdem sein eigenes Herz gebrochen ist, die Herzen anderer zu brechen. Um nicht zu fühlen, die Leere nicht zu fühlen oder das eigene gebrochene Herz nicht zu fühlen. Das ist das, was sie gelernt haben. Sie reproduzieren es wie Pawlowsche Hunde. Ja, so können Menschen sein. Brechen lieber das Herz eines anderen, schützen Ihr eigenes Herz zu Tode. Oder sie lieben herzlos, das nennt man heute Pornographie. Ich meine das nicht moralisch, sondern als Phänomen einer Spaltung zwischen Herz und Genitalien, die die moderne Kultur oft kennzeichnet.
Das, was also von Kindesbeinen an beschämt wird, ist die Stimme des Herzens. Sie wird von Erwachsenen beschämt. Sie wird belächelt, gedemütigt, manipuliert, verachtet oder sogar gehasst. Denn der Erwachsene spricht aus seinem Kopf, ist längst losgelöst von der Stimme seines eigenen Herzens, hat sie tief in sich verschlossen.
Das Kind lernt, sich dieser Beschämung zu unterwerfen. Es identifiziert sich nach und nach mit der beschämenden Stimme des Erwachsenen. Das Kind beginnt sich zu schämen. Beginnt sich seiner selbst zu schämen. Beginnt, sich der Stimme seines Herzens zu schämen. Beginnt, sich seines Herzens zu schämen. Beginnt, den Teil in sich zu belächeln, zu verachten oder zu hassen, der die Stimme seines Herzens repräsentiert. Sein sich entwickelndes Ich, sein Verstand wird jene Instanz, die sich mit der beschämenden Lebensumwelt identifiziert, und nach und nach beginnt, deren Job zu tun.
Am Anfang sind es viele Facetten seiner Gefühle, seiner Körperlichkeit, seiner Sinnlichkeit, seiner Sehnsucht, die eng verbunden sind mit seinem Herzen. Später wird diese Verbindung längst gelöst sein, dann reichen bestimmte Empfindungen, Gefühle, Emotionen, völlig aus, um sich derer zu schämen, oder fremdzuschämen, um ein Modewort zu gebrauchen.
Das Ganze ist ein durchaus schmerzhafter Prozess. Ein Schmerz, der tief vergraben wird in der Seele und Körper der Menschen. Ein Kampf, der von vornherein aussichtslos ist. Das Kind kann seine organismische Wahrheit, kann sein Herz nicht wirklich retten. Blessuren sind nicht zu vermeiden, auch in liebevollsten Familien. Das Herz und die Stimme seines Herzens müssen auf dem Altar der gehirnorientierten Realität geopfert werden, um zu überleben. Um nicht zerrissen zu werden. Um nicht vernichtet zu werden. Das ist eine kulturelle Lektion, der sich niemand zu entziehen vermag.
Doch wo Frieden herrschte, wird nun Krieg. Die Selbstbeziehung wird und bleibt geprägt durch diese tiefe Beschämung. Das Kind schämt sich seiner selbst. Es verliert viel. Es verliert sich. Es verliert seine Würde, seine Anmut, die Wahrnehmung des Einsseins mit sich und der Welt. Es wird das, von dem erwartet wird, dass es das wird. Nun ist das Kind nicht mehr bei sich selbst zuhause. Es wird heimatlos. Seine innere Heimat ist verloren. Damit der Schlüssel zur Wahrheit seiner Existenz. Seine Augen verlieren sein Strahlen, seine Bewegungen seinen Fluss, der Mensch wird steif, verspannt, rigide in seinem eigenen Körper.
Das Gehirn, gar nicht mehr so nüchtern in seiner johlenden Überheblichkeit, glaubt, auf der ganzen Linie gesiegt zu haben. Ein Phyrrussieg. Denn das abgeschnittene Herz ist nicht tot. Es muss weiterschlagen, damit der Körper leben kann. Damit das Gehirn existieren kann. Und dies Herz, das schlägt, macht allein dadurch Angst, dass es schlägt. Es ist unheimlich. Der Schrecken des lebendigen Herzens! Herzangst. Das lebendige Herz ist nicht ein Zeichen der Stärke, der Vitalität, der Sehnsucht, des innewohnenden Potentials der Persönlichkeit. Es ist nicht das heilige Organ der Liebe. Es ist nicht das Göttliche in uns, das immerwährende Ziel aller Sehnsüchte von Heimat, Gott, Glück, Selbsterkenntnis und Erleuchtung. Nein, nein, nein. Es ist, indem es dem Gehirn das ist, was es ist, ein spezieller Muskel für die Blutversorgung, beängstigend und bedrohlich. Herzangst wird Lebensangst. Herzangst wird Liebesangst. Herzangst wird Orgasmusangst. Abgetriebene Sehnsucht. Kontrolliert mit EKGs, Blutdruckmessgeräten, misstrauischen Griffen zum Puls, Pulsmessern rund um die Uhr.
Doch die Herzens in unserer Kultur tanzen als Organe aus der Reihe. Lassen sich nicht kontrollieren. Sind so nicht in der Griff zu bekommen. Die meisten Menschen im Westen sterben an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Der Herzinfarkt hängt wie ein Damoklesschwert über den hirnstolzen, dauergestressten Häuptern. Gequälte, kranke Herzen.
Derer der Mensch lernen mussten, sich zu schämen. Die existentielle Beschämung des eigenen Herzens wird zu Quelle existentiellen Leids in unserer Kultur. Einer zutiefst unglücklichen Kultur des Gehirns. Für die wir uns ganz und gar nicht schämen. Wir nennen sie ja Zivilisation, Kultur. Wir sind ja so stolz auf diese "Kultur".
Ein Phyrrussieg ist der Sieg des Gehirns über das Herz auch, weil der Mensch seine Anmut, seinen inneren Halt mehr und mehr verliert. Äußerer Halt, der Halt der Äußerlichkeit kompensiert das alles nur scheinbar. Denn innen, in den Räumen seiner Seele, herrscht Wüste, Kälte, Krieg und Bürgerkrieg. Diese innere Wüste, diese Kälte veräußert sich, der innere Bürgerkrieg gebiert immer neue äußere Bürgerkriege und Kriege. Die Wüste der inneren Natur des Menschen erzeugt die Wüste in der äußeren Natur.
Wer mit sich nicht im Frieden lebt, kann auch mit anderen nicht im Frieden leben. Der braucht die Macht, die Gewalt, das Geld. Das wussten wir doch schon lange. Aber wir begreifen es nur, wenn überhaupt, im Kopf. Fühlen es es nur wenig im Herzen. Dann ahnen wir vielleicht, wie wenig diese Kultur wirklich Kultur ist, die so mit der Natur umgeht und sich seiner eigenen Lebensgrundlagen und der kommender Generationen beraubt. Eine einfache Wahrheit. Die Wahrheiten des Herzens sind einfache Wahrheiten.
Wer mit sich nicht im Frieden lebt, kann auch mit anderen nicht im Frieden leben. Der braucht die Macht, die Gewalt, das Geld. Das wussten wir doch schon lange. Aber wir begreifen es nur, wenn überhaupt, im Kopf. Fühlen es es nur wenig im Herzen. Dann ahnen wir vielleicht, wie wenig diese Kultur wirklich Kultur ist, die so mit der Natur umgeht und sich seiner eigenen Lebensgrundlagen und der kommender Generationen beraubt. Eine einfache Wahrheit. Die Wahrheiten des Herzens sind einfache Wahrheiten.
Der Sieg über sein Herz ist ein Phyrrussieg. Das Herz kann nicht herausgerissen werden. Solange der Mensch lebt, kann es nicht sterben. Das Herz kann nur ignoriert werden. Es kann nur abgespalten werden. Es kann nur verachtet werden. Es kann nur verschlossen werden.
Das Gehirn wird sich so gegenüber der Stimme des eigenen Herzens und gegenüber der Stimme des Herzens anderer feindselig. Das Gehirn ist stolz und besessen von der Inszenierung der eigenen Grandiosität. Konstruiert sich eine feste Burg des Wissens. Alles zu wissen, alles zu verstehen, alles zu denken, alles zu erklären. Das ist die unermessliche Freiheit des Denkens, die unsere „aufgeklärte“ Gesellschaft repräsentiert. Eine Gesellschaft mit wenig Mitgefühl für die Schöpfung. Eine Gesellschaft der Gier nach dem Materiellen, denn die Dinge und das Geld sind tot, sie antworten nicht, sie sind handhabarer für Lebewesen, die Angst vor dem Lebendigen haben.
Aber diese toten Dinge schenken niemals Frieden, Heimat und Halt. Sie geben nur Verheißungen, leere Versprechungen, Glücksversprechen, die niemals eingelöst werden.
Scham und Beschämung des Herzens
Was als Erfahrung von Beschämung begann, zur Scham geworden ist, wird zu Quelle der Beschämung überall dort, wo sich die Stimme des Herzens artikuliert: In den Kindern, den einfachen Menschen, den Wilden und Unzivilisierten, den aus ihrem Herzen heraus lebenden Frauen und Männern aller Zeiten und Kulturen. Wir nennen sie naiv, primitiv, einfältig, Träumer, Romantiker, weltfremde Spinner, „Gutmenschen“. Sie werden verachtet. Sie kommen schließlich mit heiler Haut davon, wenn sie nur verachtet, aber nicht vernichtet werden. Das war und ist nicht immer der Fall.
Warum bedrohen sie uns? Weil sie uns an unsere eigene immanente Sehnsucht erinnern, die wir so tief vergraben und eingeschlossen haben. Sie sind unangenehm, weil sie erst den tiefen Schmerz und dann das wilde Tier der Sehnsucht im Menschen zu neuem Leben erwecken könnten. Daran erinnern, was hinter der eingekerkerten Seele, hinter der Leere wartet.
So müssen Herzen sprachlos in einer Welt bleiben, welche die Sprache des Herzens verlernt hat? Häufig. Es gibt wenige Nischen, Freiräume, in denen die Stimme des Herzens aufscheinen darf, dabei oft belächelt.
Für mich ist die Liebeslyrik eine Nische, die hier ihre Stimme findet. Wenn sie den einen oder anderen berührt, ein Nachempfinden, Nachschwingen oder Mitfühlen auslöst, dann ist dies der kleine, bescheidene Beitrag des Dichters, die Welt an ihr Herz zu erinnern.
Es ist die Sprache der Lyrik, die Herzsprache sein kann, wie Musik, Kunst andere Gestalten Ausdruck der Stimme des Herzens sein können, vielleicht ist es jede Kunst, die tief berührt.
Denn eines ist gewiss: Die Sprache des Herzens ist eine universelle Sprache, die, wenn auch bisweilen verschüttet oder verdrängt, sehr häufig verzerrt, in jedem Menschen sprach und spricht, manchmal laut, manchmal leise, manchmal stumm. Wenn das Herz spricht und ein anderes Herz offenen Herzens lauscht und antwortet, dann erleben wir das, was im Leben als größtes Glück, als Augenblick der Glückseligkeit erfahren werden kann: dann lieben wir.
Irgendwann erkennt jeder Mensch, dass alles andere vergänglich bleibt, verweht wie der Rauch im Winde verweht, aber das, was bleibt, bleibt immer das, was der Reichtum erfahrener Liebe, erfahrener Verbindung zwischen Herzen ist, als inneres Bild, als tiefes Gefühl. Dies bleibt das tiefste, menschliche Wesen, die tiefste menschliche Wahrheit, die tiefste Sehnsucht aus der wir geboren sind, und die erst vergeht, wenn das Herz zu schlagen aufhört.
Im April 2010
DIE POESIE IM ZEITALTER DER WORTKLIMAKATASTROPHE
Vor einiger Zeit habe ich ein Blog ins Leben gerufen, in dem ich ausschließlich Lyrik veröffentliche. Nun bin ich nicht der einzige in der Blogosphäre. Sind Poeten Saurier, atavistische Monumente aus verlorener Zeit?
Erstaunlicherweise ist das Internet gleichzeitig voller Poesie, schaut man einmal genauer hin. Ein Widerspruch auf den ersten Blick: Denn im Grunde repräsentiert Poesie/Lyrik genau das Gegenteil von dem, was uns, im Alltag und speziell auch im Regenwald des Internet, tagtäglich umgibt: Atemlosigkeit, Gehetztsein, ständige Unruhe, keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit.
Da geht Lyrik wohl gar nicht, oder? Passt einfach nicht. Denn Poesie läuft dem in vielerlei Hinsicht entgegen:
Poesie verlangsamt unsere Aufmerksamkeit. Um ihr zu begegnen, bedarf es der Konzentration, der Achtsamkeit, sie verlangsamt unser Gerichtetsein: nicht das periphere Vorbeihuschen, das Erfassen von möglichst vielen Informationen in möglichst kurzer Zeit ist hier gefordert, sondern die Kontemplation, die Versenkung, die Achtsamkeit für ein paar Worte oder einen einzigen Satz.
Poesie spricht unsere menschlichen Tiefen an, die Tiefen unseres Denk- und Assoziationsfähigkeiten, die Tiefen unserer Seele und vor allem: die Verbindung dieser beiden Persönlichkeitsfundamente, die Verbindung von Herz/Intuition/Gefühl und Verstand/Wissen/bewusster Erfahrung.
Poesie ruft nach der Stille - die Stille um dich herum und die Stille in dir selbst, denn nur in der Stille wird die Resonanz auch der leisen Töne wahrnehmbar. Auch das steht im Gegensatz zum Lärm unserer Zeit.
Poesie ist die kleine Schwester der Phantasie, der Utopie, der Transzendenz der Realität, sie dringt über das hinaus, was ist, sie sucht nach Antworten aus den Tiefen der Inspiration, des intuitiven Wissens, dessen Spielräume und Rathäuser in dieser Welt immer seltener geworden sind.
Sicher ließen sich noch manche andere Aspekte hier nennen, die allesamt belegen, wie peinlich vorsintflutlich Poesie eigentlich in diesen modernen Zeiten ist, ein ständiger Quell des Fremdschämens, und das noch im Internet.
Wirklich? Ist das alles, was dazu zu sagen ist?
Nein, selbstverständlich nicht. Sonst hätte würde ein leidenschaftlicher Lyriker wie ich nicht einen solchen Beitrag hier verfassen! Denn es gibt ja bei dieser Bestandsaufnahme noch Elemente, die das Gesagte noch in eine ganz anderes Licht rücken.
Das beginnt bei dem Gedanken, dass Menschen möglicherweise etwas mehr als perfekte Entsorgungsautomaten für das weltweite Netzwerk der Geschwätzigkeit oder die postmoderne massenmediale Geistentleerung sind: Lebewesen mit Gefühl und Verstand, mit Phantasie und spielerischer Neugierde, Kinder halt, denen suggeriert wurde, dass Erwachsensein heisst, diese Persönlichkeitselemente in sich zu ersticken. Kurzum: der Zeitgeist drängt darauf, dass diese menschlichen Eigenschaften in der Inflation der Wörter sang- und klanglos untergehen. Die Gattung Mensch steht so im Begriff, in der Sintflut der Wörter und Informationen sprachlos zu werden: das ist die Wortklimakatastrophe.
Die Poesie wird hier zum kleinen gallischen Dorf, sie wird mehr und mehr der stille Schatz, die heimliche Liebe, die letzte Leidenschaft derjenigen, die die menschliche Sehnsucht nach Transzendenz noch nicht begraben haben. Die Poesie enthält all jene Potentiale, Utopien, Transzendenzen, an denen es im Alltag so mangelt:
Poesie fordert die ganze Achtsamkeit und bekämpft die selbstgefällig zelebrierte Wuschigkeit und Nachlässigkeit der modernen Informationsgesellschaft. Sie zwingt, auf die Bremse zu gehen, genau hin zu schauen und zu spüren. Denn manchmal kann ein überlesenes Wort in der Poesie den Sesam verschlossen halten und mit ihm alle anderen Schätze. Poesie kann in diesem Sinne zum persönlichen geistigen Fitnesstrainer avancieren, mit dessen Hilfe sich manche Türen und Schätze erschließen, deren Existenz man nicht mal erahnte.
Poesie erzieht und formt die Persönlichkeit, indem sie einen Verstand ohne Herz genauso ratlos da stehen lässt wie ein Herz ohne jeden Verstand. Denn am Ende ist die wahre Bildung immer die Persönlichkeitsbildung, wenn auch solche Einsichten heute genauso vorsintflutlich klingen, wie die Poesie selbst. Doch was ist, wenn solche Einsichten wahr sind? Dann hängen wir ganz schön in der Sackgasse und sollten schleunigst unsere Richtung ändern, oder nicht?
Poesie gibt der Sprache jene Stille wieder, die im Zeitalter der Dampfplauderer verloren ging. Nicht die Quantität der Worte innerhalb einer Minute ist von Wert, sondern die Qualität der wenigen Worte, die das Umfängliche sagen, wie es zum Beispiel in der Tradition des japanischen Haiku zu höchster Blüte verstanden und entfaltet wurde. Nur in der Stille erschließt sich das bisweilen gehauchte Geheimnis der Poesie. Nur in der Stille findet sich das bisweilen gehauchte Geheimnis der eigenen Seele.
So wie Kinder, die der Maschinerie der Spielzeugrundumversorgung einigermaßen entgehen konnten, mittels ihrer Phantasie ganze Welten entstehen lassen können, so haben wir als Menschen solche Fähigkeiten nie ganz verloren, sonst würden wird nicht mehr träumen des Nachts. Aber die Lust, die Freude, die ekstatische Kraft der Imagination, soweit sie denn aus unserer eigenen Seele und nicht derjenigen bejubelter Massengeschmackregisseure entstammen, sind ein zutiefst humanes Potential für die Transzendierung des Bestehenden, des Vorwärtsträumens. Es ist die Posie, die sie nicht nur anspricht und fordert, sondern auch entwickelt und schult.
Das sollte einfach mal gesagt werden. Auch wenn hier manches nur angerissen wurde.
Werte Leserin, werter Leser, besuchen Sie doch einfach mal meinen Lyrikblog "Eintagsliebe", hier finden Sie nicht nur viele Gedichte zum Thema "Liebe", sondern auch Links und Verweise auf andere Stellen im Internet, die die poetische Kunst am Leben erhalten. Twittern und googeln Sie doch einfach mal nach "Poesie", machen Sie die Musik aus, nehmen Sie sich Zeit, einfach mal ganz langsam, Wort für Wort, Satz für Satz, Lyrik zu lesen, mit der Haltung der Ruhe, nicht der Eile, mit der Haltung der Stille, nicht der Reizüberflutung, mit der Haltung der Frage, nicht der Antwort.
Machen wir weiter, liebe Leser und Leserinnen, mit dem Schreiben, mit dem Lesen und dem Leben von Poesie. Es ist eine gute Therapie im Zeitalter der Wortklimakatastrophe. Es ist eine gute Zeit für die Poesie.